EMV-Probleme durch zu viele Leiterplatten
Beobachtungen aus der Praxis
(Fast) jeder, der schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat, wird sich an Tetris erinnern.
In meinem Gedächtnis ist es als mein erstes Computerspiel abgespeichert.
Inzwischen scheint es so etwas wie Tetris 4.0 zu geben.
Wenn ich an meine Trouble-Shooting-Projekte der letzten Zeit zurückdenke, so hatten fast alle Geräte mehr als 1 Leiterplatte. Kürzlich fand ich in einem Gehäuse 16 – ja 16! Und es war kein großes Gerät. Das Gerät war etwa so groß wie zwei Schuhkartons.
Da wird gestapelt, aneinandergereiht, ineinander gesteckt oder umeinander gewickelt, was das Zeug hält.
Genannt werden mehr, als es bei Tetris unterschiedliche Formen gibt. Hier ein paar Beispiele:
Wenn man nachfragt, werden immer die Kosten genannt.
Bei ehrlicher Betrachtung ist dieser Ansatz aber letztlich selbst ein massiver Problem- und (!) Kostentreiber.
Diesen „Argumenten“ ist immer gemein, dass nur ein kleiner Ausschnitt der komplexen Materie betrachtet wird.
Beispiel: 4 Lagen kosten mehr als 2.
In der Einzelbetrachtung stimmt das. Für das Gesamtsystem gilt aber fast immer das Gegenteil. Darauf komme ich weiter unten zurück.
Was bei einer solchen Betrachtung unter den Tisch fällt, sind die meisten Konsequenzen, die sich daraus ergeben.
Für eine gute EMV ist ein niederimpedantes Versorgungssystem unabdingbar.
Dabei ist ein möglichst flacher Impedanzverlauf über der Frequenz viel wichtiger als eine besonders niedrige Frequenz in einzelnen Bereichen.
Wesentlich für den EMV-Erfolg ist immer die Überlegung, wie ein Strom zu seiner Quelle zurückkehrt. Nach den Kirchhoffschen Gesetzen fließen alle Ströme in geschlossenen Stromkreisen – egal ob DC oder HF.
Was trivial klingt, wird in der Praxis viel zu wenig beachtet.
EMV-Störungen sind in erster Näherung nichts anderes als (unerwünschte) Spannungsabfälle über impedanzbehaftete Strompfade. Deshalb ist es so wichtig, die für die Funktion notwendige Energie über ein möglichst niederimpedantes Versorgungssystem zur Verfügung zu stellen.
Aus diesem Grund plädieren alle EMV-Experten für eine durchgehende Rückleiterebene (meist die Masselage). Einer der großen Vorteile ist die sehr geringe Impedanz.
Hier noch einmal eine wichtige Daumenregel:
geringere Impedanz
= geringerer Spannungsabfall
= weniger EMV-Störungen
Und was passiert, wenn es mehrere Leiterplatten gibt?
Jetzt braucht man plötzlich Stecker, Kabel oder andere Hilfsmittel, um die Ströme von einer Leiterplatte zur anderen zu leiten.
Genau hier kommt es zu erheblichen Impedanzänderungen. Höhere Impedanzen bedeuten mehr Spannungsabfall (siehe oben).
Die Impedanzänderungen an diesen Schnittstellen erfolgen aber nicht kontinuierlich, sondern immer sprunghaft. An Impedanzsprüngen kommt es automatisch zu Reflexionen – je höher die Frequenz, desto stärker. Hier schaukeln sich Störungen sehr schnell auf.
Ich weise – wie auch andere EMV-Kollegen – immer wieder auf die Problematik hin, Leiterbahnen über Schlitze zu führen. Bei kombinierten Leiterplatten muss man dann eher von Canyons als von Schlitzen sprechen.
Neben einer erhöhten Störabstrahlung führt dies aber auch zu geringerer Signalintegrität. Das bedeutet, das Gerät kann sich selbst stören.
Auf jeden Fall wird dadurch die Störfestigkeit des Gerätes verringert.
Das bedeutet letztendlich, dass sich alle Aspekte der EMV verschlechtern.
Sie möchten wissen, wie Sie die Vorteile für Ihre Produkte nutzen können?
Wie können Sie dies umsetzen?
Überlegen Sie sich gut, ob es wirklich eine zusätzliche Leiterplatte sein muss.
Die beschriebenen Effekte führen dazu, dass mit jeder zusätzlichen Leiterplatte zusätzlicher EMV-Aufwand betrieben werden muss (siehe Kommentar von James Pawson). Und ob die notwendigen zusätzlichen Filtermaßnahmen die selbst verursachten Probleme beseitigen, darf getrost bezweifelt werden. Jeder Filter steht in Wechselwirkung mit seiner Umgebung. Jeder Filter hat eine begrenzte Wirkung.
Der beste Weg: Probleme von vornherein vermeiden.
Also: Die Anzahl der Leiterplatten so weit wie möglich reduzieren.
Zusätzliche Stecker, zusätzliche Leitungen, zusätzliche Filtermaßnahmen, evtl. sogar zusätzliche Schirmmaßnahmen …
Alles kostet zusätzliches Geld.
Im Zweifel der Leiterplatte 2 Lagen mehr zu spendieren ist meist aus Kostensicht besser, aber technisch meist gar nicht notwendig (sofern man nicht von 2 Lagen kommt).
Das Problem des fehlenden Bauraums bekommt man in den Griff, wenn man schon in der Konzeptphase mit der EMV beginnt – und die Kollegen aus der Mechanik mit ins Boot holt.
Und denken Sie daran: Wenn Sie durch die Verkleinerung der Leiterplatte viele zusätzliche Bauteile (Stecker, Kabel, Befestigungslaschen etc.) einsparen können, benötigen Sie weniger Bauraum. Die nächste Kostenersparnis.
Der Mythos von der Kostenexplosion bei steigender Lagenzahl hält sich hartnäckig. Wenn man weiß, wie es funktioniert, reduzieren Multilayer-Leiterplatten den Aufwand für weitere EMV-Filtermaßnahmen und damit auch den Bauraum erheblich.
EMV ist ein Systemthema. Alles hängt mit allem zusammen.
Hüten Sie sich also davor, vorschnell mit Kosten zu argumentieren.
Machen Sie nicht den Fehler, die Kosten einer Maßnahme oder eines Bauteils einzeln zu bewerten. Der Schuss geht meistens nach hinten los.
Beurteilen Sie immer, welchen Einfluss es auf die Gesamtkosten hat.
Je mehr Leiterplatten sie in einem Gerät haben, desto größer ist das Einsparpotential an Bauraum und Kosten.
Denn: Gute EMV spart Kosten.
Und damit kann gute EMV zum Wettbewerbsvorteil werden.
Oft sind mehr Lagen gar nicht notwendig, weil im Layout große Potenziale verschenkt werden. Das fängt schon bei der Frage an, was lege ich wo hin und in welcher Reihenfolge.
Etwas vereinfacht hat sich für mich folgende Reihenfolge bewährt:
1️⃣ Durchdachte Bauteil-Anordnung
2️⃣ Routing aller impedanzkontrollierten Signale (auf der leeren Platte lassen sich am besten Lagenwechsel vermeiden)
3️⃣ Das Versorgungssystem bestehend aus mindestens 1 durchgehenden Masselage und angepassten Inseln für wichtige unterschiedliche Spannungsebenen
4️⃣ Der Rest
So ist es nicht verwunderlich, dass es mir in den meisten Projekten gelingt, die Stückkosten zu senken. Und wenn man das einmal verstanden hat, dann auch die Entwicklungskosten.
Und das Wichtigste überhaupt:
Früh anfangen. Nicht erst beim Schaltungsentwurf. Da haben die Kollegen aus der Mechanik in der Regel schon Fakten geschaffen. Mehr dazu im Artikel: EMV in Konzept und Vorentwicklung
Eine Kurzfassung dieses Beitrags habe ich auf LinkedIn veröffentlicht.
Daraus hat sich eine interessante Diskussion zwischen verschiedenen internationalen EMV-Experten ergeben.
James Pawson:
Absolutely. In my experience multiple small boards are when a product has evolved rather than being designed or re-designed.
I would take the approach of treating each individual board or block as its own system. Filtering the inputs and outputs from each block appropriately.
Michael Schwitzer:
Genau, mit der Platzierung beginnt das Drama, meist schon etwas vorher bei der Modulanordnung.
Viele Leiterplatten = viele Steckverbinder = viele Signalpins und dann werden deutlich zu wenig Pins für die Übergabe von GND spendiert.
Mehr GND-Pins kosten ja wieder mehr Geld.
Und so nimmt das Drama seinen Lauf. 😞 Leider.
Meist fängt das Drama aber noch viel früher an.
Man denke an die Kollegen von der Mechanik. Sie sind meist früher dran. Da werden erste Fakten geschaffen. Bei der Gehäuse-Konstruktion wird bspw. der Bauraum definiert und wo die Stecker platziert werden.
Aber es gibt Wege mit denen es nicht soweit kommen muss. 😀
z.B. mit einer sorgfältigen EMV-Risiko- & Chancen-Analyse zu Projektbeginn.
Kenneth Wyatt:
I can agree wholeheartedly, and from experience! I had the honor of working as the only EMC engineer at Hewlett-Packard’s oscilloscopes division back in the late 1980s through mid-2000s. One of the early designs used multiple PC boards plugged into a common bus mother board with all the associated coax and ribbon cables interconnecting all. What an EMC mess! Once we started using a single PC board, the average internal EMI decreased by over 20 dB!
Martina Kreutz:
I can vividly imagine that
Florin P.:
There is also the effect of aging or exposure to vibrations, shocks, of the connecting parts (connectors, terminal blocks, wires and cables and their insulation, etc.
Most of the time, this would make the unit noisier, more sensitive to EMI, etc.
Think that this happens too in case of cars, aircraft, trains, as a whole system of systems.
Martina Kreutz:
The series of downstream problems could probably be continued almost endlessly.
Manuel Schmellenkamp:
vielen Dank für die Einblicke, ich bin nicht so tief in den Funktionen und Anforderungen der Leiterplatten etc drin, da hilft es mehr über die Hintergründe zu erfahren.
Bei uns geht es meist um die Gehäuse oder Stecker etc außen drum und wir können da passende schirmende Kunststoffe und bei Bedarf Spritzguss-Prototypen anbieten.
Martina Kreutz:
Das ist ein oft beschrittener Weg.
Man hat EMV-Probleme, versteht aber nicht warum. Also packt man Schutzmaßnahmen außen herum. Die Ursache wird nicht beseitigt.
Man kennt sie ja nicht. Und damit steigen die Kosten.
Die Lösung liegt in eine frühzeitigen Herangehensweise, lange vor dem eigentlichen Design. Was kann schief gehen? Was vermeidet es. Sehr oft sind es Dinge, die richtig umgesetzt keinen Cent kosten. Aber teure Zusatzmaßnahmen vermeiden.
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