1. EMV sei schwarze Magie
Dieser Glaubenssatz begegnet mir sehr häufig. Es gibt ihn in verschiedenen Variationen. EMV sei Voodoo, EMV sei wie Lotto spielen usw.
Tatsache ist: EMV ist Physik. Zugegeben, nicht immer einfache. Aber ich sehe auch immer wieder überraschte Gesichter, wenn ich erkläre, wie viel man mit dem Ohmschen Gesetz erklären kann.
EMV wird oft viel komplizierter verkauft, als es für die meisten Anwendungen notwendig ist. Wenn ich alles erklären will, komme ich um komplexe Differenziale, Integrale und dergleichen nicht herum.
Aber ca. 95 % aller Probleme können mit viel einfacheren Mitteln gelöst werden.
Mehr dazu in den folgenden 9 Mythen.
2. Für die EMV sei der Schaltungsentwickler zuständig
EMV ist Teamarbeit!
Der Schaltungsentwickler spielt eine wichtige Rolle. Aber er kann eine gute EMV bei weitem nicht alleine sicherstellen.
Eine gute EMV ist das Ergebnis vieler guter Kompromisse zwischen verschiedenen Gruppen.
3. EMV könne man erst mit einem Prototyp entwickeln
Dieser Irrglaube ist eng mit dem ersten verbunden. Da man glaubt, EMV während des Designs nicht erfassen zu können, beschränkt man sich auf die spätere Messung der Hardware.
Zu dem Zeitpunkt, an dem die erste Hardware auf dem Tisch liegt, sind aber ca. 80 % der möglichen EMV-Stellschrauben festgezurrt, teilweise wie in Beton gegossen. Die restlichen 20 % sollen es dann richten. Meist erfolglos. Eine – oft ungeplante – Entwicklungsschleife ist die Folge. Viele davon wären vermeidbar.
4. Software habe nichts mit EMV zu tun
Software kann einige EMV-Maßnahmen in der Hardware überflüssig machen. Andererseits führt Software auch zu vermeidbaren Fehlern. Es ist wichtig, die Kollegen auf ihrem aktuellen Wissensstand abzuholen. Dies führt oft zu nicht für möglich gehaltenen Fortschritten in der EMV.
Normalerweise steht eine hohe Genauigkeit ganz oben auf der Anforderungsliste an die Software. Das ist auch gut so. Aber wie fast alles hat auch das seine Schattenseiten, die man kennen und abwägen muss. Eine hohe Abtastrate eines Signals bedeutet immer auch eine potenziell hohe Empfindlichkeit gegenüber EMV-Einflüssen.
Für erfahrene Softwareentwickler ist es ein probates Mittel, z.B. von 10 Daten einer Messreihe die beiden Extremwerte zu verwerfen.
Wird dann bei einem analogen Signal aus den verbleibenden der Mittelwert gebildet, so entscheidet dies bei Störfestigkeitsmessungen oft schon über Bestehen oder Nichtbestehen.
Die Devise lautet daher: So schnell wie nötig und so langsam wie möglich.
Vergleichbare Ansätze findet man bei der Auslegung von Filtern oder bei Plausibilitätsabfragen.
All diese Dinge macht ein Softwareentwickler, der die Zusammenhänge kennt, quasi nebenbei. Sie kosten nichts.
CE + CE ≠ CE
5. Wenn alle Subkomponenten ihre EMV-Tests bestehen, würde auch das Gesamtsystem bestehen
Die Annahme, dass grüne Ampel plus grüne Ampel wieder grüne Ampel ergibt, ist weitgehend falsch.
Dies hängt mit der Situation an den Schnittstellen der Teilkomponenten zusammen. Jede dieser Schnittstellen ist HF-mäßig davon abhängig, wie die Schaltung auf der anderen Seite aussieht. Dies ist NIE rückwirkungsfrei.
Die EMV-Messung einer Teilkomponente berücksichtigt daher nie alle Konsequenzen unterschiedlicher äußerer Beschaltungen. Es macht für eine Schnittstelle einen großen Unterschied, ob sie ein nieder- oder hochohmiges Gegenüber hat, ob es eher kapazitiver oder induktiver Natur ist.
Dies ist jedoch kein Persilschein für die Entwickler der Teilkomponenten. Auch wenn man das Gegenüber nicht genau kennt, kann man durch einige Überlegungen und Recherchen die mögliche Situation eingrenzen.
Die Suche nach dem einen Schuldigen im System ist also nicht zielführend und löst keine Probleme! Auch hier gilt: EMV ist Teamarbeit.
Und der Blick über den eigenen Tellerrand ist unerlässlich.
Detaillierte Informationen zur Verwendung von Komponenten: Die Krux mit dem CE-Zeichen
6. Im Zweifel würde ein zusätzliches Filter oder eine Schirmung helfen
Häufig wird die Auslegung von EMV-Schutzmaßnahmen auf die Zeit nach den ersten EMV-Messungen verschoben (siehe Glaubenssatz #3). Teilweise ist dies mit der Annahme verbunden, dann nur die tatsächlich erforderlichen Filter- und Schirmungsmaßnahmen einsetzen zu müssen. Nicht zuletzt erhofft man sich dadurch Kosteneinsparungen.
Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Weder bei Filtern noch bei Abschirmmaßnahmen gibt es die eine allgemeingültige Ausführung, die hilft. Beide müssen an die Gegebenheiten und die Charakteristik der Störungen angepasst werden.
Filter
Bei Filtern gilt generell, dass sie möglichst nahe an der Quelle (bei Emission) oder möglichst nahe an der Einkoppelstelle (bei Störfestigkeit) angeordnet werden müssen. Außerdem müssen die Impedanzverhältnisse des Filters an die Situation am Ort des Filters angepasst werden.
Ist dies nicht der Fall, entstehen im Filterkreis zusätzliche Impedanzen, die die Filterwirkung beeinträchtigen. Die Folge ist, dass die Filter größer dimensioniert werden müssen und damit teurer werden. Mit zunehmender elektrischer Entfernung steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Störungen andere und/oder mehrere Wege nehmen, sodass der Filter gar nicht mehr wirken kann.
Schirme
Schirme wirken generell nur in Verbindung mit Filtern. Jede Abschirmung wird von Leitungen, anderen Anschlüssen, Displays usw. durchbrochen, die durch Filter „geschlossen“ werden müssen. Obendrein ist nicht jedes Schirmmaterial für jede Art von Störung geeignet.
Eine nachträgliche Schirmung und/oder Filterung wird daher in jedem Fall aufwendiger, teurer und schwerer und benötigt in der Regel mehr Bauraum. Und es ist keineswegs sicher, dass die Maßnahmen auch wirksam sind. In sehr vielen Fällen wird jedoch ein tiefer Eingriff in die Konstruktion unumgänglich sein.
7. EMV-Normen beschrieben die durchzuführenden EMV-Tests umfassend
Normen sind immer ein Kompromiss der vielfältigen Interessen der an der Normung Beteiligten. Das ist weder anrüchig noch zu beanstanden. Man sollte sich aber darüber im Klaren sein.
Normen sollen in einem breiten Anwendungsbereich Gültigkeit haben. Dies schließt einen hohen Detaillierungsgrad von vornherein aus.
Normen sind in der Regel nur hinsichtlich der Grenzwerte, die sie definieren, relativ eindeutig. Für die Durchführung können sie nur grobe Leitplanken vorgeben.
So unterschiedlich die Prüflinge sind, so unterschiedlich sind auch die EMV-Prüfungen in ihrer konkreten Durchführung. Wie die Überprüfung der anforderungsgerechten Funktion zu erfolgen hat, ist in fast keiner Norm zu finden. Wann ein Zustand unter EMV-Gesichtspunkten in Ordnung ist oder nicht, hängt im Wesentlichen vom Prüfling selbst ab.
Für ein gutes und belastbares EMV-Ergebnis ist ein detaillierter Prüfplan unabdingbar. Eine Checkliste für einen guten Prüfplan findet sich in der EMV-Bibliothek.
8. Um EMV zu verstehen, müsste ich mit den Maxwell‘schen Gleichungen per Du sein
Die Max’wellschen Gleichungen haben in der EMV einen hohen Stellenwert. Wenn ich JEDES EMV-Problem lösen will, komme ich um ihre Anwendung nicht herum.
Die Programmierung eines EMV-Simulationstools ohne die Anwendung der Maxwell’schen Gleichungen ist völlig undenkbar. Auch wer Feldsolver einsetzt, tut gut daran, sich mit den Gleichungen zu beschäftigen.
Sie sind aber nicht für jedes EMV-Problem notwendig. Viel mehr als man gemeinhin annimmt, lässt sich z.B. mit dem Ohm’schen Gesetz erklären.
Wer einmal die grundsätzliche Wirkungsweise der 4 verschiedenen Kopplungseffekte verstanden hat, kann mindestens 90 % aller EMV-Probleme auf den Grund gehen.
Natürlich kann man die Kopplungseffekte auch mit Hilfe der Maxwell’schen Gleichungen erklären. Es geht aber auch ohne.
Mit einfachen grafischen Darstellungen ist dieses Verständnis meist viel leichter zu erreichen als mit der mathematisch korrekten Lösung.
9. Wenn durch Abschalten einer Teilkomponente ein Fehler verschwindet, hätte ich den Verursacher gefunden
Trial ’n Error ist ein beliebtes Mittel zur Fehleranalyse. Funktionen werden lahm gelegt, verdächtige Leitungen abgeklemmt oder Schaltungsteile entfernt.
An dem Punkt, an dem der Fehler nicht mehr auftritt, folgt oft eine fatale Schlussfolgerung. Das zuletzt entfernte Teil sei für die Störung verantwortlich. In der Folge werden an dieser Stelle Abhilfemaßnahmen definiert. Das böse Erwachen folgt bei der Messung der modifizierten Prüflinge.
Diese Vorgehensweise ist nicht prinzipiell falsch, sollte aber keinesfalls als alleinige Form der Fehleranalyse angesehen werden. Zunächst müssen nach scheinbarer Fehlerbehebung alle Maßnahmen bis auf die letzte rückgängig gemacht werden, um sicherzustellen, dass es sich nicht um die Summe verschiedener Änderungen handelt.
Ursache oder Phänomen?
Selbst wenn die Fehlerbehebung auf nur eine Maßnahme zurückgeführt werden kann, ist noch nicht sicher, ob es sich tatsächlich um die Ursache handelt! Es könnte z.B. auch ein Kopplungspfad unterbrochen sein, der verhindert, dass die eigentliche – noch unbekannte – Ursache sichtbar wird. Wird die vermeintliche Ursache später – ergänzt durch eine Schutzmaßnahme – wieder eingebaut, tritt der Fehler oft wieder auf.
Man hat nur das Phänomen bekämpft, nicht aber die Ursache.
Noch schlimmer wird es, wenn mein Prüfling Teil eines größeren Systems ist. Bei der Messung der Komponente wurde der Fehler scheinbar beseitigt. Wird die Komponente Teil des Systems, ändern sich die Wechselwirkungen zwischen der Komponente und dem System. Der Fehler tritt wieder auf.
Viel Zeit und Geld wurde vergeudet, ohne der Lösung näherzukommen.
Vertrauen Sie keinem Ergebnis ungeprüft
Vertrauen Sie daher keiner Messung ungeprüft. Hinterfragen Sie das Ergebnis auf physikalische Plausibilität. Nutzen Sie weitere Möglichkeiten der Überprüfung – sei es durch Berechnung, Simulation oder einfach durch Befragung eines Experten.
Genauso wenig wie ich einem Messergebnis blind glaube, vertraue ich ungeprüft einem Simulationsergebnis. Das Ergebnis muss durch andere Messungen oder zumindest durch eine statisch ausreichende Anzahl korrekter ähnlicher Simulationen bestätigt werden.
Ein guter EMV’ler hinterfragt daher zunächst jedes Ergebnis. Nicht, weil ich es per se besser wüsste. Ich habe oft genug erlebt, welche Folgen es hat, wenn man die eigene Arbeit nicht hinterfragt. Deshalb ist dies auch nicht als Zweifel an der Kompetenz des Messenden zu verstehen.
10. Für EMV-Tests sei ein großer Messgerätepark erforderlich
Welche Messgeräte werden für EMV-Messungen benötigt?
Hier sind 2 Dinge zu unterscheiden. Handelt es sich um normkonforme Messungen zur Gerätefreigabe (meist am Ende eines Projektes) oder um entwicklungsbegleitende Messungen? Die normkonformen Messungen sollen hier nicht behandelt werden. Kaum jemand wird ein großes EMV-Labor für Freigabezwecke selbst aufbauen wollen. Nutzen Sie stattdessen die Vielzahl der vorhandenen Messlabore.
Schaltungsdetails im Fokus
Was ist in der Designphase sinnvoll? Vielfach wird angenommen, dass es am besten sei, die gleichen Messmittel zu beschaffen, wie sie in externen Labors verwendet werden.
Diese Annahme ist nicht nur falsch, sie wäre auch extrem teuer. Man würde mit Kanonen auf Spatzen schießen. Auch die Erfolgsquote ist miserabel.
Normkonform vs. entwicklungsbegleitend
Normative Messverfahren sind für Analysezwecke ungeeignet. EMV-Normen haben immer das gesamte Produkt im Fokus. Bei analytischen Messungen liegt der Fokus mehr auf Details. Mit normativen Messverfahren ist es in der Regel nicht möglich, diese Details herauszuarbeiten.
Qualitative Ergebnisse statt quantitative
Bei analytischen Messungen geht es um Tendenzbetrachtungen, fast nie um absolute Werte. Dies reduziert die Anforderungen an die Genauigkeit der Messgeräte. Die Messungen finden fast immer in unmittelbarer Nähe der Prüfobjekte statt. Damit reduzieren sich auch die Leistungsanforderungen und Baugrößen. Große Verstärker werden ebenso wenig benötigt wie große Antennen.
All dies führt dazu, dass die erforderlichen Geräte kleiner, handlicher und letztlich wesentlich preiswerter werden. Sie können in der Nähe des Arbeitsplatzes des Schaltungsentwicklers eingesetzt werden. Je nach Zielsetzung der Messungen kann sogar auf eine geschirmte Messkabine verzichtet werden.
Mit Emissionsmessungen beginnen
Die meisten EMV-Probleme liegen im Bereich der Störaussendung. Deshalb ist es ratsam, hier anzufangen, wenn man über die Schaffung von EMV-Messmöglichkeiten nachdenkt. Für den Anfang genügt ein Spektrumanalysator oder ein Oszilloskop mit FFT-Funktion. Letzteres ist oft ohnehin vorhanden. Zusätzlich benötigt man einige Nahfeldsonden. In der Regel genügen 2 Magnetfeldsonden unterschiedlicher Größe und eine E-Feldsonde.
Eine verringerte Störaussendung kommt immer auch der Störfestigkeit zugute.
Messgeräteperformance
Der Frage, wie schnell mein Messgerät sein muss, kann man sich mit der sogenannten 5er-Regel nähern. Wie schnell sind die steilsten Flanken, die ich noch erfassen will? Daraus leitet man die entsprechende Frequenz ab und multipliziert sie mit 5. Warum 5? Um eine für diese Zwecke ausreichende Genauigkeit zu erreichen, muss ich mindestens die 5. Wenn das zu wenig ist, nehme ich einen entsprechend höheren Faktor.
Beispiel:
Meine steilsten Schaltvorgänge sollen eine Flankenzeit von 10 ns haben. Dies entspricht einer Frequenz von 100 MHz. Ich brauche also mindestens ein 500 MHz Oszilloskop.
Da ich mich immer im Nahfeld bewege, muss ich beachten, dass hier das E-Feld und das H-Feld nicht wie im Fernfeld in einer festen Beziehung zueinander stehen. Die Verwendung vereinfachter Messgeräte entbindet mich also nicht von der Notwendigkeit, gewisse Grundlagen der EMV zu kennen. Nicht dass am Ende das Sprichwort ‚Wer viel misst, misst Mist‘ zutrifft.
Gute Ideen ersetzen dicke Geldbeutel
Gute EMV-Kenntnisse helfen, unorthodoxe Lösungen zu finden.
Das wohl billigste „Messgerät“ für ESD-Abschätzungen ist ein leeres Piezo-Feuerzeug. Ich habe keine Kontrolle über Amplitude und Steilheit. Bei der ersten Fehlersuche kann es aber nützliche Dienste leisten. Das Piezoelement erzeugt erfahrungsgemäß Spannungen im Bereich von 4 – 6 kV. Von Vorteil ist ein Feuerzeug, bei dem das Piezoelement am Ende eines biegsamen Halses sitzt.
Das Feuerzeug ist sicher ein Extrembeispiel, das nicht repräsentativ für die Mehrzahl der sinnvollen Messgeräte ist. Es zeigt aber, dass für EMV-Messungen in Eigenregie kein 6-stelliges Budget erforderlich ist.
3 Punkte sind hier wichtig:
- Ich muss wissen, was ich tue. Quantitativ geht hier nichts – qualitativ schon.
- Im Emissionsbereich lohnen sich DIY-Messgeräte kaum. Es gibt sehr gute und preiswerte Geräte zu kaufen.
- Bei der Störfestigkeit gibt es dagegen Möglichkeiten mit einem guten Kosten-Nutzen-Verhältnis.
Am Ende eines Projektes führt kein Weg an normgerechten Messungen mit meist teuren Messgeräten vorbei. Hier gibt es aber genügend und gute Dienstleister.
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Vorhandene EMV-Probleme lösen
So bestehen Sie im nächsten Anlauf
EMV-Tests nicht bestanden?
Schluss mit ‚trial & error‘! Entscheidend ist eine detaillierte Analyse.
Nur wer die Ursache im Detail versteht, kann Maßnahmen definieren, die (auch im nächsten Projekt) funktionieren.
Reviews während der Umsetzungsphase sichern den Erfolg.